Kurzgeschichten

 

Mit dem Format der Kurzgeschichte habe ich mich in der Produktion leider noch nicht so ganz angefreundet, was schade ist, weil ich es in der Perzeption sehr liebe. Hemingway, Saunders, Carver – Kurzgeschichten lese ich ungemein gerne. Hier ist die eine, die ich bislang zu Papier gebracht habe:

 

AUF HOHER SEE

 

Euch wär das genauso passiert. Ihr hättet in der Situation exakt das Gleiche gemacht wie ich. Keine Frage, lügt euch nicht selbst an. Hättet ihr anders gehandelt, würde das bedeuten, dass ihr unsensible, respektlose Maden seid. Es war Pech, Schicksal, ein Unglück, aber Dummheit – da macht ihr es euch ein bisschen zu leicht, mir Dummheit zu unterstellen, denn auch jetzt, wenn ich mit dem Abstand von fast zwei Monaten darüber nachdenke, kann ich keine wirkliche Schuld bei mir finden – nicht einmal mit den hormonellen Veränderungen seitdem, die mich meines Equilibriums berauben und aufbrausend machen, die in mir das Bedürfnis schüren, einen Schuldigen zu finden, und sei ich es selbst.

 

Bella kommt natürlich hin und wieder in den Sinn, aber wirklich fair ist das nüchtern betrachtet nicht. Dass sie an den Begleitumständen eine Mitschuld trägt, steht wohl außer Frage, und dass es ausgerechnet ihr unseliges Geschenk war, das ich mit so ruinösem Ausgang zu schützen suchte, macht die Sache keinen Deut besser, aber ihr die alleinige Schuld an dem Unglück zu geben, wäre, wie eine Katze fürs Stehlen zu schelten.

 

Natürlich hätte man bedachter handeln können. Aber ihr, die ihr alles besser wisst, müsst euch doch erstmal in meine Lage hineinversetzen. Ihr sitzt auf der Couch in der Sicherheit eurer eigenen vier Wände, die ihr nur zum Arbeiten, für die Kneipe oder zum Urlaub im Pauschalangebot verlasst, und seht in irgendeiner Magazin-Sendung – weil man schließlich auch Nachrichten gucken muss, um informiert zu bleiben, die Tagesschau aber so trocken und langweilig ist – von meinem Unglück, und ihr meint, mich richten zu dürfen?

 

Wisst ihr eigentlich, dass es in keiner anderen Sprache der Welt ein Wort für Schadenfreude gibt? Menschen anderer Sprachgemeinschaften machen sich über uns lustig – über euch lustig –, deuten die Tatsache, dass wir über dieses Wort verfügen, als Zeichen dafür, dass die Freude am Harm Anderer tief im Inneren unser deutsches Wesen definiert.

 

Mitleidsbekundungen habe ich wenige bekommen, nicht mal von Freunden, höchstens aus der Familie. Bella, ausgerechnet Bella, hat die einfühlsamste Mail geschrieben – zumindest bis kurz vor Schluss, wo sie es sich nicht verkneifen konnte, zu erwähnen, ihr Mitgefühl ändere nichts an unserer Situation und sie habe ganz bewusst nur geschrieben und nicht angerufen.

 

Wer von euch ist denn überhaupt schon mal Einhand gesegelt? Wer von euch war schon mal auf etwas Kleinerem als einem Kreuzfahrtschiff auf dem offenen Ozean? Ihr hättet euch doch schon lange vorher in die Hosen geschissen, und was wär dann mit Bellas Geschenk gewesen? Das Ergebnis jedenfalls wäre das Gleiche geblieben, weil ihr euch nach dem Einkoten sicherlich eurer fäkalienbeschmierten Beinkleider entledigt hättet, ihr Klugscheißer.

 

Entschuldigung. Ich möchte sachlich bleiben. Mein Körper befindet sich noch in der Gewöhnungsphase an die veränderte hormonelle Situation. Ich muss sachlich bleiben, denn schließlich suche ich mit diesen Worten nach Verständnis, möchte, dass ihr nachvollziehen könnt, verlange eure Einsicht, dass ihr in gleicher Situation gleich gehandelt hättet, dass die Umstände den Unfall nahezu unumgänglich machten wie ein Schachmatt in sechs Zügen, für das das Schicksal bereits lange zuvor seine Figuren in Position gezogen hat und das nunmehr unabwendbar ist. Muss sachlich bleiben. Aggression meinen Adressaten gegenüber ist nicht zielführend, aber wo ich gerade dabei bin, euch um Verständnis zu ersuchen, versteht bitte auch, dass Sachlichkeit denen gegenüber, die mich in der tragischsten Stunde meines Lebens verlachen, nicht leichtfallen kann.

 

Dumm. Dumm wagt ihr, mich zu nennen. Mit meinem Abschluss von Salem hatte ich schon nach dem Gymnasium eine bessere Bildung als die meisten von euch nach dem Studium – und lasst uns nicht vergessen, dass der Großteil von euch, statistisch betrachtet, nicht einmal studiert hat. Zwei Master, einen in Business Administration und einen in Data Science: Und ihr wagt, mich dumm zu schelten, ihr nichtswissenden Sofasegler? Ihr matschweichen Badewannen-Matrosen?

 

Bleib sachlich.

 

Sachlich möchte ich klarstellen, dass ich „dumm“ zumindest für das falsche Attribut halte. Ich gestehe ein, Fehler gemacht zu haben, aber die Stigmatisierung als dumm, das darf ich euch zugestehen, kann nur auf eurer Unkenntnis aller relevanten Faktoren beruhen. Dem werde ich nun Abhilfe schaffen. Ihr kennt Fakten, aber eben nicht alle. Ihr kennt, was die Sensationspresse und das Internet aus der Geschichte gemacht haben. Sie haben die Geschichte ihrer Geschichte beraubt und sie in eine Situation verwandelt. Das funktioniert so aber nicht. Jede Situation hat ein Davor.

 

„Mann fährt besoffen gegen Baum“. Neunundneunzig Prozent der Leser dieser Schlagzeile werden an gelebten Darwinismus denken – oder zumindest an das grobe Konzept, da die Kenntnis des spezifischen Begriffs bei der Zielgruppe von Zeilen wie dieser sicherlich nicht vorausgesetzt werden darf. Dazu wird der Artikel die wichtigsten Fakten präsentieren: Promillegehalt, Beruf und sozialer Stand des Fahrers, Marke seines zerstörten Gefährts als Indikator für Letztere, ein paar Details zum Einsatz der Rettungskräfte und eine vom Reporter schnell gegoogelte Statistik zu tödlichen Autounfällen unter Alkoholeinfluss. Das ist alles. Dass der gute Herr selten trank und im Allgemeinen als verantwortungsbewusster Verkehrsteilnehmer galt, dass er auf einer Betriebsfeier weilte – also in einem sozialen Umfeld, in dem Alkoholkonsum weithin akzeptiert ist –, von der mit dem Taxi nach Hause zu fahren er geplant hatte, und dass er auf selbiger Betriebsfeier einen Anruf erhielt, seine Mutter, die er sehr liebte, zu der er aber in letzter Zeit wegen ein paar unüberlegt geäußerter Worte ein angespanntes Verhältnis hatte, habe einen Herzinfarkt erlitten und ringe mit dem Tod, findet in dem Artikel ebenso wenig Erwähnung wie die Tatsache, dass er lange erfolglos versuchte, ein Taxi zu dem entsprechenden Krankenhaus zu rufen, was in der dörflichen Region am Wochenende manchmal schwierig sein konnte. Das Alles wäre schon viel zu komplex, würde niemanden interessieren. Wie wäre es mit einer vom Reporter gegoogelten Statistik über die Taxiversorgung in ländlichen versus urbanen Räumen in Deutschland? Uninteressant. Fakten, Fakten, Fakten. Mann tot; Kreis Gütersloh; eins komma zwei Promille; Citroën Megâne; sieben Feuerwehrleute; drei Rettungssanitäter und ein Notarzt. Baum: Pappel.

 

Ich darf, so sehr euer Hohn mich auch verletzt, nicht vergessen, dass ihr nur Opfer unserer selektiven Informationsverwalter seid, dass vielleicht sogar ich mir, wäre das Unglück jemand anderem widerfahren, allein auf Basis der zur Verfügung gestellten Fakten ein kleines Schmunzeln nicht hätte verkneifen können. Fisch: Barracuda. Es gibt wichtigere Details. Ich hoffe, diese Aufarbeitung wird euch helfen, euch ein wenig in meine Lage hineinzuversetzen.

 

Im Unfallbericht der Versicherung musste ich angeben, was für Maßnahmen ergriffen werden könnten, um derartige Vorfälle in Zukunft zu verhindern. Es ist eben ein Standardbogen, der nach jedem gemeldeten Fall auszufüllen ist. Eintausend Wörter stellte man mir in Aussicht, um einen der komplexeren Umstände meines Lebens zu schildern. Das zwanzigfache hätte nicht gereicht. Wo soll man da überhaupt anfangen? Natürlich könnte man es sich leicht machen und als Lösung angeben, in Zukunft weniger starke emotionale Bindungen zu Geschenken Verflossener aufzubauen. Aber es ist nicht leicht, also kann man es sich auch nicht leicht machen.

 

Man könnte mal anfangen, auf seine Freundin zu hören – und zwar grundsätzlich und nicht nur in einer bestimmten Situation und schon gar nicht in der meines Unfalls, in der sie nicht einmal zugegen war. Ich rede vom Davor. Denn es ist leicht, Nörgeleien zu ignorieren oder sie unbewusstem Sexismus verfallend auf die Periode zu schieben. Es ist leicht, arrogant von Besitz auszugehen, der einem nicht weggenommen werden, dessen man sich höchstens selbst entledigen kann. Es ist leicht, sich einzureden, ein Mädchen, das zwar intelligent ist und sich eine gute Bildung erarbeitet hat, aber eben doch aus einer Familie kommt, in der das Geld stets knapp war, werde unter keinen Umständen einen aufstrebenden Junior Executive verlassen, der noch dazu aus exzellentem Hause stammt. Es ist leicht, ein unzufriedenes Mädchenherz mit Geld, mit Schmuck, mit teuren Abendessen zu besänftigen. Aber es ist mitnichten leicht, der Ohnmacht Herr zu werden, wenn sie ihre Drohungen wahr macht, wenn sie einem wegnimmt, was zu besitzen man geglaubt hat: ihr Selbst.

 

Dass sich etwas ändern musste, dass die Zäsur in meinem Liebesleben nach einer zumindest vorübergehenden Entsprechung im Alltag verlangte, wurde mir auch ohne Doktor Neufelds Hilfe schnell klar. Meine Eltern von den Vorteilen für alle Beteiligten zu überzeugen, wenn ich das Boot in die Karibik brächte, war ein Leichtes. Obwohl einer übermäßigen Sensibilität wohl unverdächtig und obschon sie das Mädchen aus der Arbeiterfamilie nie gerne an meiner Seite gesehen hatten, war ihnen nicht entgangen, dass die Trennung von Bella mir zugesetzt hatte. Als ich ihnen erklärte, ich hoffe, durch das Eremiten-Dasein einer Solo-Atlantik-Überquerung mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, waren sie noch wenig angetan, äußerten sich besorgt über mögliche negative Auswirkungen auf meine Karriere. Als ich aber von mir selbst weglenkte und ihnen die Aussicht schmackhaft machte, auf diese Weise selbst im Winter eine Weile in der Karibik segeln zu können, begannen sie einzusehen, dass ein emotionaler Reset für mich wohl wichtig sei.

 

Das Boot ist schon lange in Familienbesitz. Meine Eltern haben es vor knapp zwanzig Jahren nagelneu gekauft, aber es ist keine Massenware wie eure Bavarias oder Jeanneaus. Es ist eine Amel, wenn ihr es genau wissen müsst, eine Amel 54, die allererste dieser Reihe. Auf diesem Boot, der Destiny, habe ich viele Sommer meiner Jugend verbracht. Ich kenne sie gut, weiß, was sie braucht und was zu geben sie willens und imstande ist. Sie ist groß mit über siebzehn Metern, aber gerade noch für einen erfahrenen Segler alleine zu handhaben.

 

Solltet ihr vom Segeln keine Ahnung haben, weil ihr euch zwar einen Fernseher für vor Sensationsgier triefende Magazin-Sendungen, mitnichten aber ein Boot – nicht einmal eine Bavaria oder Jeanneau – leisten könnt, und euch fragen, wie es denn überhaupt möglich sei, alleine auf Langfahrt zu gehen und wann man denn schlafe, hier ein wenig Grundlegendes: Moderne Yachten sind mit Autopilot und digitaler Navigationselektronik ausgestattet. Alarmsysteme wecken den Einhand-Segler, wenn andere Schiffe zu nahekommen oder wenn der Wind seine Richtung ändert oder eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht. Ich brauche also lediglich die Segel zu bedienen, sie nach dem Wind auszurichten oder ihre Fläche bei Starkwind zu verringern. Aber es geht nicht um die Segel. Es geht um das Meer. Traue ich mich, fünfeinhalbtausennd Kilometer lang kein anderes menschliches Wesen zu sehen, nichts als Wasser, gute oder knappe zwanzig Tage lang, je nachdem, wie wohl gesonnen mir der Wind ist?

 

Einmal war ich mit Bella auf der Destiny, unser letzter gemeinsamer Urlaub im vergangenen Sommer, aber Hintergedanken, durch die lange Zeit allein an Bord zumindest die Erinnerung an Bella so lebhaft wie möglich zu halten, gehabt zu haben, kann ich reinen Gewissens bestreiten. Da ich die Zeit alleine dazu zu nutzen gedachte, über sie hinwegzukommen, kann man sogar sagen, das exakte Gegenteil sei der Fall gewesen, und auch die Tatsache, dass ich an den meisten Tagen die Badehose, die sie mir in eben jenem Urlaub gekauft hatte, trug, darf wohl eher als Zufall aufgefasst werden, da es völlig unbewusst geschah.

 

Wir segelten an der Amalfi-Küste entlang von Sorrento, wo das Boot in der Marina gelegen und wo Bella die Badehose – weiß mit grauen Mustern – für mich erstanden hatte, bis nach Amalfi selbst und wieder zurück. Ein schönes Stück Italien, kann ich euch sagen, obwohl es für euch irrelevant sein dürfte, weil ich bezweifele, dass ihr euch einen Urlaub in der Gegend leisten könnt. Bitte – ich versuche nicht, herabwürdigend zu klingen. Es handelt sich lediglich um einen meines Erachtens zulässigen Schluss von der Qualität eurer Nachrichtenquellen auf euren sozialen Stand.

 

Eigentlich war es ein traumhafter Urlaub mit exzellentem Essen, erstklassigen Weinen und natürlich fantastischem Sex, vor Anker liegend im Schutze der Dunkelheit an Deck, liebes- und champagnertrunken. Das Adverb „eigentlich“ füge ich nur deshalb ein, weil Bella die Stimmung hin und wieder mit Ansätzen von Gesprächen über unsere Beziehung zu trüben suchte. Sie schien die Gelegenheit, mich Tag und Nacht bei sich zu haben, mit allen Mitteln dazu nutzen zu wollen, mir die Vorzüge gemeinsam verbrachter Zeit aufzuzeigen, mich subtil davon zu überzeugen, beruflich kürzer zu treten. Ich bräuchte doch angesichts dessen, was ich von meinen Großeltern schon geerbt hätte, gar kein Geld mehr, und auch für mein Herz sei es angesichts von Stress und freien Radikalen besser, etwas geregeltere Arbeitszeiten anzustreben. Sie wolle mir das Arbeiten ja nicht verbieten, weil sie wisse, wie sehr ich es genieße, aber müsse es denn unbedingt so viel sein.

 

Wirklich verderben konnte sie uns den Urlaub nicht, weil es mir stets gelang, halbwegs zügig vom Thema abzulenken oder darauf zu verweisen, dass diese schöne Reise nicht die Plattform für derart erste Gespräche sein solle, aber ein irgendwie fader Beigeschmack blieb dennoch haften und trug wahrscheinlich schlussendlich mit zu ihrer Entscheidung, sich von mir zu trennen, bei.

 

Soll ich das der Versicherung schreiben? Maßnahmen um ähnliche Unfälle in Zukunft zu verhindern: beruflich kürzer treten. Ist das die Lösung? Und wenn ich meinen Beruf liebe? Das Gefühl, Chef zu sein, mit neunundzwanzig schon gelegentlich zu erweiterten Vorstandssitzungen eingeladen zu werden, signifikant älteren Mitarbeitern sagen zu können, was sie zu tun haben, was ich von ihnen erwarte – dieses Gefühl kann dir kein Koks der Welt geben, nicht mal der reinste kolumbianische Schnee und schon gar nicht das mit Speed gestreckte Zeug, das wir in Salem immer bekamen. Ich liebe meinen Beruf, und wenn Bella mich liebt, muss sie das verstehen, muss sie glücklich sein mit dem, was mich glücklich macht.

 

Zu diesem Schluss bin ich während meiner Zeit als Eremit auf See gekommen – in der Zeit vor dem Vorfall natürlich. Im Endeffekt war Bella furchtbar egoistisch, und verstanden hat sie mich auch nicht, denn natürlich liebe ich das Arbeiten nicht, wie sie es formulierte, habe ihr gegenüber auch nie behauptet, es zu tun. Meinen Beruf liebe ich. Den sozialen Status, den man als Junior Executive genießt, das Etwas-zu-sagen-Haben, die neidischen Blicke älterer Kollegen. Bella war immer nur auf sich fokussiert, wollte mich für sich, wollte meine Zeit für sich. Sie hat in meinem hundertachtzig Quadratmeter Penthouse gewohnt und hatte alles, was man sich nur wünschen kann. Ich war in der Regel sonntags für sie da und manchmal kam ich sogar wochentags früh genug von der Arbeit, dass wir gemeinsam etwas essen gehen konnten. Was kann sie mehr verlangen? Wie gierig kann ein Mensch sein?

 

Und gerade weil ich zu dem eben erwähnten Schluss kam, dass Bella eine Egoistin, mithin also eine charakterlich nicht für eine Beziehung geeignete Person ist, ist es völlig ausgeschlossen, dass ich die Badehose trug, um meine Erinnerung an sie lebhaft zu halten, auch wenn das nicht der Standard-Narrative in euren Seifenopern und Herz-Schmerz-Schnulzen entspricht. Soweit mein Gedächtnis mich nicht trügt, hat die Hose auch nicht ein einziges Mal Erinnerungen an sie ausgelöst – außer unmittelbar vor dem Unfall, als ich mich doch genötigt sah, ihr Geschenk zu schützen, aber das ist im Endeffekt natürlich lediglich eine Frage von Etikette und Respekt.

 

Die Angelausrüstung an Bord war professionell. Mein Vater, ein Angel-Afficionado, hielt sie stets auf dem neuesten Stand. Sie kostet mehr als eure Fernseher nebst Couch und Bier. Während der Überfahrt, muss ich zugeben, hatte ich wenig Glück, obwohl ich auch bereits von mehreren Cruisern gehört hatte, dass es immer schwieriger wird. Die Meere sind leer. Guter Thun ist selten, hin und wieder sieht man einen Wahoo, Mahi-Mahi soll es noch geben, aber den will ich nicht einmal unbedingt, weil sein Geschmack auch nicht mehr Charakter hat als Bella. Während meiner gesamten neunzehn Tage auf See von Las Palmas bis Martinique fing ich nur einen einzigen kleinen Mahi, der gerade groß genug war für drei Mahlzeiten. Wenn das Meer leer ist, hilft einem auch die beste Ausrüstung nichts.

 

So könnt ihr euch vorstellen, wie sehr ich mich freute, als nur wenige Stunden von meinem Ziel in Martinique entfernt ein kräftiger Zug an der Leine davon zeugte, dass ich dieses Mal länger satt werden würde. Wie bereits eingangs erwähnt, bin ich mir recht sicher, dass die meisten von euch ebenso gehandelt hätten wie ich, dass den meisten von euch in der gleichen Situation das gleiche Unglück widerfahren wäre. Natürlich handelt es sich dabei um eine rein hypothetische Annahme, weil schon aus finanziellen Gründen ausgeschlossen werden kann, dass jemand von euch je in die gleiche Situation käme. Versucht dennoch, euch in meine Lage hineinzuversetzen.

 

Ihr seid also seit neunzehn Tagen auf dem Wasser, ohne Land gesehen zu haben. Ihr habt in dieser Zeit keinen nennenswerten Fisch gefangen. Ihr seid endlich mit euch im Reinen, habt seit Tagen keinen negativen Gedanken mehr gehabt. Endlich nimmt ein Tier von solider Größe den Köder. Weil negative Gedanken einfach keinen Platz in eurer Welt mehr haben, freut ihr euch trotzdem, als ihr seht, dass es kein Thun- oder Segelfisch, sondern nur ein Barracuda ist. Ihr habt Barracuda noch nie probiert, habt aber gelesen, er schmeichele gut zubereitet durchaus dem Palatum, werde in den Grenadinen sogar als Spezialität angeboten. Den Fisch mit der euch zur Verfügung stehenden Ausrüstung an Deck zu bringen, fällt euch nicht schwer, obwohl das Tier gut und gerne anderthalb Meter misst. Ihr seid bereit, es von seinen Leiden zu befreien, haltet das Messer, das zu diesem Zweck stets auf dem Achterdeck aufbewahrt wird, bereits in der Hand, als euch auffällt, dass ihr die zumindest zu Teilen blütenweiße Badehose tragt, die eure Ex euch geschenkt hat. In diesem Moment, in dem sich der Gedanke an eure Ex mit der Grandeur des Augenblicks vermählt, sei es durch die Meditation der letzten Tage oder den Anblick des majestätischen Tiers, das ihr ganz alleine in die Knie gezwungen habt, habt ihr eine Epiphanie.

 

Euch wird plötzlich bewusst, dass ihr euch nur, um leichter über sie hinwegzukommen, selbst einzureden versucht habt, eure Ex sei egoistisch, verfüge über keinen guten Charakter. Nun habt ihr einen großen Fisch und niemanden mit dem ihr ihn teilen könnt. In der Stunde des Erfolgs ist niemand da, der sich mit euch freuen kann. Ihr stellt fest, dass ihr eure Ex nach wie vor liebt, sie immer geliebt habt, sie mehr liebt als die Macht, die eure berufliche Position euch gibt. Macht macht einsam, fällt euch auf, und ihr beschließt, eurer Ex alle ihre Wünsche zuzugestehen, im Job kürzerzutreten, vielleicht sogar einfach zu kündigen, wenn sie euch nur eine zweite Chance zu geben bereit ist.

 

Beflügelt vom Glück der Liebe, die ihr wieder spürt, legt ihr das Messer mit behänden Bewegungen auf das Teak-Deck, streift die Badehose ab und blickt euch nach einem sicheren Verwahrungsort für sie um. Niemandem wäre schließlich geholfen, wenn eine Böe sie nun davontrüge. Wie Gott euch schuf mit niemandem als der Bestie als Zeuge nähert ihr euch derselben erneut. Erst als ihr bereits neben ihr kniet, fällt euch auf, dass ein leichtes Rollen des Boots in den Wellen das Messer ein wenig nach Lee hat rutschen lassen, und dies ist der Moment, um den es geht, denn ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass niemand von euch in dem Moment daran gedacht hätte, dass euer Gegner eben tatsächlich nur in die Knie gezwungen war, ein kniender Widersacher aber immer noch gefährlich sein kann, und ebenso wenig wäre auch nur einem von euch in dem Moment in den Sinn gekommen, dass gewisse Körperteile, wenn freischwingend, morphologisch durchaus an bestimmte Beutetiere des Barracudas erinnern können. Auch ihr wärt nicht aufgestanden, das reglose Tier nach dem Messer zu umkurven. Auch ihr hättet euch einfach über es gebeugt, und ich wünschte, ihr könntet den Schmerz fühlen, den ich fühlte.

 

Für euren Hohn hättet ihr ihn verdient.