Ich bin auf dem Weg von Cádiz nach Korsika. Vor mir steht meine erste Durchfahrt der Straße von Gibraltar, und weil man als erfahrener Seemann um die Probleme weiß, die angeschwemmt werden können, wenn man neue Seegebiete ohne eingängige Vorbereitung durchfährt, bat ich in den Tagen zuvor das Internet um Rat. Selbiges erwies sich als überaus hilfsbereit und bot mir selbstlos zahlreiche, häufig konträre Forumsbeiträge von Leuten an, deren jeweilige Sachkenntnis durch ihre zumeist vertrauenerweckend protzigen seemännischen Selbstbeweihräucherungen hinreichend verifiziert schien. Ich suchte nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner und kam zu dem Schluss, dass es wohl das Beste sei, kurz vor Hochwasser Tarifa zu passieren und mich anschließend nördlich des Verkehrstrennungssystems dicht an die europäische Küste zu halten, wobei allerdings auch vielstimmig behauptet wurde, bei der Einfahrt ins Mittelmeer könne man so viel nicht falsch machen, weil man in jedem Fall auf die Unterstützung einer mitlaufenden Strömung bauen dürfe, die eben lediglich je nach Tide stärker oder schwächer ausfalle.
Mit diesen von Google für mich handverlesenen Informationen ausgestattet verlasse ich Cádiz am Abend mit einem gewissen zeitlichen Puffer, um das Hochwasser am frühen nächsten Morgen auch ja nicht zu verpassen. Ein atemberaubender Sonnenuntergang weist mir den Weg aus dem Hafen. Leider zeigt der Wind keinerlei Absicht, sich an die durch die Vorhersage in seinem Namen getätigten Zusicherungen zu halten und schläft über Nacht zur Gänze ein. Bald schon ist mein schöner Puffer aufgebraucht, und ich werfe die Maschine an, doch da das Schwimmdings nun mal ein Segelboot ist, verfügt der Motor lediglich über ein sehr überschaubares Leistungsvermögen, weshalb ich mich auch unter seinem Antrieb mit mickrigen viereinhalb Knoten zufriedengeben muss. Ohne Wind werde ich das Hochwasser nicht schaffen, doch etwas anderes bereitet mir noch größere Sorge: Ich muss das Gebiet nordwestlich der Straße von Gibraltar durchfahren, in dem es laut Medienberichten immer wieder zu Angriffen von Orcas auf Segelboote kommt.
Der neue Tag beginnt mit viel Blau und wenig Weiß am Himmel. Ich passiere etwa fünf Seemeilen von der Küste entfernt die Stadt Barbate, die Sonne im Gesicht, die Orcas im Kopf, und noch während ich mich mit der geringen mathematischen Wahrscheinlichkeit, dass es ausgerechnet mich treffen könne, beruhige, höre ich einen Blas und sehe, so aufgeschreckt, nur gute hundert Meter voraus einen schwarzen Rücken mit schwertförmiger Flosse in eleganter Kurve die Oberfläche durchbrechen. Wahrscheinlich nur ein Tümmler, denke ich mir. Mach dich nicht verrückt, Junge, rede ich mir ein, während die Erkenntnis, dass Tümmler bei Weitem nicht so groß und bullig und auch nicht schwarz sind, langsam den Kampf gegen ihre Verdrängung gewinnt. Vielleicht ein Grindwal, versuche ich es mit einer neuen vagen Hoffnung, weil Hoffnung nun mal verdaulicher ist als Verzweiflung.
Im nächsten Moment spüre ich einen Aufprall, einen Schlag. Das ganze immerhin fünfzehn Meter lange und vierzehn Tonnen schwere Boot erzittert. Aus Zeitungsartikeln weiß ich, dass Orcas sich gerne in Ruderblätter verbeißen, weil sie – so heißt es tatsächlich – mit deren Funktion vertraut sind. Sie wissen, dass sie sich auf diese Weise zum Kapitän machen und mit dem Boot spielen können. Davon ausgehend, dass dieses zwei oder drei oder vier oder was-weiß-ich-wie-viele Tonnen schwere Tier stärker ist als der Antrieb meines Autopiloten, schalte ich diesen augenblicklich ab, um ihn nicht zu beschädigen. Als nächstes nehme ich den Gang raus. Erstens will ich natürlich sichergehen, dass mein Propeller das Tier nicht verletzt. Zweitens kann ein Ruder ein Boot nur dann steuern, wenn dieses sich auch bewegt. Ansonsten ist es wie am Lenkrad eines stehenden Autos zu kurbeln: Die Reifen bewegen sich, aber wer deshalb im Stand auf eine Richtungsänderung warten möchte, sollte Snacks mitbringen. Ich hoffe, dass das Tier vielleicht das Interesse verlieren könnte, wenn das Boot nur so dahindümpelt, ohne sich wirklich zu bewegen.
Weil ich den armen Wal nicht mit Lautstärke belästigen will, schalte ich die Maschine ganz ab, bevor ich zur Kamera greife, um die Geschehnisse foto- und videografisch zu dokumentieren. Ich spüre Adrenalin im Blut, doch Furcht lässt die Ausweglosigkeit der Situation nicht zu. Ich bin dem Tier ausgeliefert, kann nur warten und hoffen, dass es keinen Schaden anrichtet, der mich zu einem Werftaufenthalt zwingt. Abschütteln kann ich den Orca nicht, und dass er auf höfliches Bitten reagieren wird, halte ich zumindest für unwahrscheinlich. Versenken wird er das Schwimmdings nicht, und mein Leben und das meines Kumpels Doran, der mit an Bord ist, sind ebenfalls nicht in Gefahr. Soweit ich weiß, gibt es in der Geschichte der Menschheit nicht einen einzigen dokumentierten Angriff eines Orcas in freier Wildbahn auf einen Menschen. Es ist das Boot, mit dem er spielen will, mit dem er sich messen will. Vielleicht weiß er auch, dass es Boote sind – wenn auch Fischerboote –, die versuchen, ihm seinen Thunfisch streitig zu machen. In dem Fall würde es sich um einen tatsächlichen Angriff, um einen Racheakt oder eine Art Grenzschutz handeln, aber immer noch wäre es nur ein Angriff auf das Fahrzeug – nicht auf seine Insassen.
Hinter dem Heck kann ich gut die schwarz-weiße Zeichnung des Tiers erkennen, die nur einen oder anderthalb Meter unter der Wasseroberfläche durchschimmert. Ich schätze es auf viereinhalb bis fünf Meter. Immer wieder dreht das Steuerrad von hart Backbord auf hart Steuerbord und zurück, zeigt uns, dass unter dem Rumpf gearbeitet wird. Nach einer guten Minute lässt der Orca vom Ruder ab, schwimmt ein paar Meter, holt tief Luft, und startet einen neuen Versuch und dann noch einen und noch viele. Jeder einzelne dieser Versuche wird beim Aufprall, beim Zuschnappen der mächtigen Kiefer, beim Ergreifen des Ruders durch ein solides Erschüttern des gesamten Boots angekündigt, durch einen Schlag, bei dem ich jedes Mal wie konditioniert versuche, mir die Bedingungen meiner Bootsversicherung und insbesondere den Passus bezüglich der Höhe des Selbstbehalts ins Gedächtnis zu rufen. Das Ruder inklusive Ruderstange ist ein zwei Meter langer Hebel, und die Vorstellung, der Aufprall einer Masse von mehreren Tonnen auf einen solchen Hebel könne ohne Schaden anzurichten vonstattengehen, wirkt abwegig.
Irgendwann dann, nach angespannten aber zum Glück nicht allzu langen elf Minuten, hat der Wal genug. Offenbar habe ich ihm das Spiel verdorben, wofür ich mich fast entschuldigen möchte. Im Endeffekt habe ich unglaubliches Glück gehabt. Erstens war nur ein einziges Individuum an dem Angriff beteiligt. Häufig werden Boote von drei oder sogar vier Walen gleichzeitig attackiert. Zweitens war mein Angreifer sicherlich nicht ausgewachsen. Meines Wissens werden die Tiere dieser Gruppe nicht so groß wie ihre Artverwandten in den Polarregionen, aber mit unter fünf Metern kann es sich trotzdem nicht um ein erwachsenes Exemplar gehandelt haben. Drittens verlor der Wal recht schnell das Interesse. Ich habe von mehreren Vorfällen gelesen, in denen die Orcas bis zu eine Stunde lang immer wieder Angriffswelle über Angriffswelle schwammen. Bei mir waren es nur gute zehn Minuten. Fünf weitere verharre ich, um sicherzugehen, dass er weg ist, bevor ich die Maschine wieder starte. Die Reise beginnt verheißungsvoll.
Hier ist zu erkennen, wie der Orca Luft holt und dann wiederkommt. Das Quietschen im Hintergrund kommt von den Ruderbewegungen, aber dass ich meine Ruderlager tauschen muss, wusste ich schon vorher.
Der Orca nimmt eine kurze Verschnaufpause zwischen Angriffen.
Immer wieder verbeißt sich das Tier im Ruder.
Jedes Mal, wenn der Wal Luft holen geht, hoffe ich, dass er die Lust verloren hat, doch gute zehn Minuten lang kehrt er immer wieder zurück.
Im Nachhinein bin ich beeeindruckt von der soliden Bauweise des Schwimmdings.
Zu meinem Glück handelt es sich um ein Jungtier von weniger als fünf Metern Größe.
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