Am späten Donnerstagnachmittag kommen wir in Porto di Ponente an, einer wunderschönen kleinen Bucht im Nordwesten der äolischen Insel Vulcano. Vor uns erhebt sich der majestätische Kegel der den Norden der Insel – immerhin Namensgeberin für das platonische Konzept des Vulkans in vielen Sprachen – dominiert, während sich hinter uns Lipari, Salina, Filicudi und das winzige Alicudi je nach Entfernung in unterschiedlich klaren Konturen aufgereiht vom Horizont abheben. Die Bucht öffnet sich nach Westen und verspricht, uns einen atemberaubenden Sonnenuntergang zu liefern. Dementsprechend wenig kann es verwundern, dass es voll ist. Gute siebzig Boote schätze ich in der Bucht. Ich muss mit einem Platz am Rand Vorlieb nehmen, was mich, da die Vorhersage für die Nacht ruhig ist, trotz der relativen Nähe zu durchaus bedrohlichen Felsen nicht übermäßig stört.
Beim Setzen slippt der Anker zunächst ein bisschen, hält dann aber sehr gut. Den Anker setzen bedeutet, mit der Maschine rückwärts zu fahren, um zu prüfen, ob der Haken hält und ihn idealerweise tief einzugraben. Laut einer App, auf der Leute Ankerplätze bewerten, besteht der Grund hier aus Sand, dem perfekten Material für einen guten Halt. Warum ich mich immer wieder darauf verlasse, was irgendwelche Badewannen-Matrosen in diese App kritzeln, weiß ich nicht. Auch warum ich die Angabe nicht mit dem Schnorchel verifiziere, obwohl die Erfahrung mich gelehrt hat, dass hier in den Äolischen Inseln zumeist nur eine sehr dünne Sandschicht auf einer glatten Felsplatte liegt, auf der der Anker keinen Halt finden kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Ebenso wenig lässt sich sagen, warum so viele Leute in der App behaupten, der Grund bestehe aus Sand. Ich glaube, die meisten Freizeit-Boris-Hermanns hier setzen ihren Anker nicht mal, sondern widmen sich gleich ihrem Sundowner, sobald der Haken gefallen ist.
Noch weit nach mir, es hat bereits zu dämmern begonnen, kommen zwei große Motoryachten in die Bucht. Ohne offensichtliche Sorge ankern sie zwischen mir und den Klippen. Selbst die elektronische Seekarte, die es leider manchmal nicht ganz genau nimmt, warnt hier vor knapp unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen, doch daran scheinen die Kapitäne keinen Anstoß zu nehmen. Sobald der Anker im Wasser ist, werden Nassgetränke rausgeholt und man erklärt sich gütig bereit, die ganze Bucht mit elektronischer Musik zu beschallen, um anderen Bootsbesatzungen die lästige Entscheidungsfindung bei der Musikauswahl zu erleichtern.
Irgendwann nach Mitternacht werden die Bässe dann ausgeschaltet, doch allzu viel Schlaf ist mir in dieser Nacht nicht vergönnt. Um zwanzig nach vier wache ich auf, weil Kettengeräusche laut im Steven resonieren und das Pfeifen eines Windes zu hören ist, der, wenn auch noch nicht stark, in jedem Fall stärker ist als vorhergesagt. Als ich an Deck komme, um mir ein Bild zu machen, ist meine Crew bestehend aus Ben und Álvaro, die ob der Hitze zumeist im Cockpit schlafen, bereits wach. In der Ferne sind Blitze zu sehen. Ich checke das Wetterradar und sehe eine Gewitterzelle apokalyptischer Ausmaße auf uns zusteuern. An Schlaf wird in den nächsten Stunden nicht zu denken sein. Ich habe gerade noch Zeit, mir meine Ölzeugjacke zu holen, bevor es losgeht.
Der Wind bricht plötzlich und mit Macht über uns herein, springt binnen weniger Minuten von fünfzehn Knoten auf durchgehende achtundzwanzig mit Böen über dreißig, und mit ihm kommt das Chaos. Hinter uns höre ich Geschrei. Zwei Boote kommen sich gefährlich nahe, offenbar hält bei einem oder beiden der Anker nicht. Leute versuchen mit Fendern, das Schlimmste zu verhindern, während andere den Anker hieven, was angesichts der Bedingungen alles andere als einfach ist. Kommandos zwischen Bugcrew und Rudergänger sind über das Pfeifen des Winds kaum zu hören. Allenthalben wird jetzt gebrüllt, und ich erkenne, dass mindestens auf der Hälfte der Boote mit slippenden Ankern gekämpft wird. Ich schalte die Maschine an, um bereit zu sein, mich jeden Moment von den Felsen zu entfernen, sollte auch mein Anker nicht halten. Auf der elektronischen Seekarte verfolge ich jede Bewegung des Schwimmdings, gucke bei jedem Schwoien, ob wir den Klippen nähergekommen sind. Geschrei ist in der gesamten Bucht zu hören, und überall treiben Boote aufeinander zu. Niemand hat seinen Anker gesetzt und kaum einer hält.
Immer größer werdende Wellen versetzen das Schwimmdings in ein unangenehmes Rollen. Ich halte mich an den Backstagen fest, Edelstahldrähten, die direkt mit dem Mast verbunden sind. Plötzlich spüre ich einen wahrnehmbaren elektrischen Schlag im rechten Unterarm – nichts, was mich umbringen könnte, aber genug, dass es noch eine ganze Weile in den Nervenbahnen kribbelt. Ich wünschte, ich verstünde mehr von Elektrizität, blicke mich um, ob es höhere Masten in meiner Nähe gibt. Die Tatsache, dass dem so ist, beruhigt mich ein wenig. Bei Gewitter ist es definitiv besser, nicht den Größten zu haben.
Die beiden Motoryachten, die am Vorabend nach mir ankamen und Plätze noch näher an den Felsen akzeptierten, haben ebenfalls beide ihre Aggregate gestartet. Man ist nervös. Von überall her hört man über das Pfeifen des Winds das Rasseln von Ankerketten, und langsam aber sicher leert sich die Bucht zusehends, stampfen mehr und mehr Boote gegen auf einen Meter angewachsene Wellen an uns vorbei gen offene See.
Plötzlich scheinen auch unsere Nachbarn bei den Felsen zu nervös zu werden. Mit enormer Geschwindigkeit, die für eine beeindruckende Beschleunigung spricht, schießt die Poweryacht an uns vorbei. Ich denke noch, dass so eine Geschwindigkeit nicht ideal sein kann, solange der Anker noch im Grund hängt, als die Yacht um neunzig Grad dreht und voll auf die Klippen zuhält. Keine fünf Sekunden sind seit ihrer überhasteten Entscheidung, aufzubrechen, vergangen. Ich mutmaße, der Anker müsse sich an einem Felsen verhakt und das Boot zur Richtungsänderung gezwungen haben, doch sicher kann ich nicht sagen, was passiert ist. Sicher ist nur, dass die Geschwindigkeit zu hoch ist, um noch reagieren zu können, denn bis zur Felswand sind es nur zwanzig oder dreißig Meter. Ben fragt mich, ob unsere Nachbarn die Bucht verließen. Nein, erwidere ich. Die säßen hart auf den Felsen und führen nirgendwo mehr hin.
Tiefschwarzer Rauch dringt aus ihrem Auspuff, als sie offenbar versuchen, mit maximaler Maschinenleistung und Rückwärtsfahrt loszukommen, doch es ist nichts zu machen. Das Boot ist, wie später nach Tagesanbruch erkennbar wird, soweit auf die Felsen aufgelaufen, dass es sogar mit leichter Schlagseite daliegt. Kurz nach der Strandung sendet die Besatzung, offenbar eine größere Familie von acht Erwachsenen, ein pyrotechnisches Notsignal, sprich: eine Leuchtrakete, in den Himmel. Ich vermute, sie müssen ihre Stromversorgung verloren haben und können daher keinen Funkspruch absetzen. Ich versuche, die Notmeldung per Funk weiterzuleiten, doch mein Gerät spielt verrückt – sei es wegen des sintflutartigen Niederschlags oder wegen der elektrischen Felder um uns herum. Ich hoffe, dass die Funkausrüstung auf anderen Booten besser funktioniert. Diejenigen, deren Anker halten, haben nun weit mehr Platz um sich herum und können die Situation entspannter verfolgen.
Eine Weile später, eine halbe oder dreiviertel Stunde, ich weiß es nicht, kommt ein Boot der Guardia Costiera, der italienischen Küstenwache in die Bucht. Sofort macht man auf der auf Grund gelaufenen Yacht mit einer Handfackel auf sich aufmerksam, doch viel können die Retter in dieser Situation nicht ausrichten, zumal in meinen Augen keine immanente Gefahr für Leib und Leben besteht. Ich kann nur mutmaßen, was geschah. Noch lange nach dem Auflaufen auf Grund und dem rabiaten Versuch, freizukommen, drang dichter weißer Qualm aus dem Heck der Yacht und wurde durch den Wind ins Innere gedrückt. Unter Umständen bestand die Gefahr eines Feuers an Bord. Bei Tagesanbruch sehe ich auch, dass der Großteil der an Bord befindlichen Personen mit angelegter Schwimmweste am Bug ausharrt, was auf die Sorge vor einem Feuer im Heckbereich hindeuten könnte. Inzwischen kommt kein Qualm mehr, doch die Dünung ist weitaus zu mächtig, um Personen sicher von Bord zu bringen, und das Schiff der Küstenwache, obschon höchstens zehn Meter lang, ist viel zu groß, um sich der Yacht zu nähern.
Dünung hat die unangenehme Eigenschaft, auch nach den sie erzeugenden Winden auszuharren, und so ändert sich, nachdem der Sturm vorübergezogen ist und die Luft fast völlig stillsteht, erstmal wenig an der Situation. Erst allmählich legen sich die Wellen und erlauben Stunden nach dem Stranden eine sichere Evakuierung. Die Bergung der Yacht hingegen dürfte sich weitaus schwieriger gestalten.
Nachdem wir alle den verdienten Schlaf nachgeholt haben, schnorchele ich zu meinem Anker und erkenne, dass er sich unter einem großen Felsen verhakt hat. Sand ist weit und breit nicht zu erkennen, und ich gehe davon aus, dass all die Yachten, deren Anker gehalten hat, ebenfalls unter Felsen verhakt sein müssen. Zum Glück liegt mein Anker nur in gut sieben Metern Tiefe, denn ich nehme an, dass wir werden tauchen müssen, um ihn dort zu befreien. Zwei andere Boote heuern ortsansässige Taucher an, um ihren Anker zu befreien, doch ich habe mit Ben und Álvaro genau die richtige Crew für derartige Missionen.
Im Vordergrund der Vulkankrater, im Hintergrund die Insel Lipari, dazwischen der Ankerplatz. Bei Einsetzen des Sturms lagen hier noch mindestens doppelt so viele Boote in der Bucht.
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