Seit Tagen befinden wir uns in der intertropischen Konvergenzzone, den berüchtigten Doldrums. Hier treffen der Nordost- und der Südostpassat aufeinander, doch auf starke Winde, wo zwei so zuverlässig blasende Systeme zusammenstoßen, hofft man vergeblich: Die Doldrums sind eine einzige riesige Flaute, und während man ansonsten von Squalls genervt ist, sehnt man sie sich hier herbei. Squalls sind kleine Zellen von lokalen Extremen, die entweder starken Wind oder starken Regen oder zumeist beides mit sich bringen, aber selten länger als eine halbe Stunde andauern, bevor sie vorübergezogen sind. Man muss reffen und das ganze Cockpit wird nass, so dass man sie ansonsten lieber meidet, aber in den Doldrums geben sie dem Boot wenigstens für eine kurze Zeit ein wenig Schub. Manchmal schafft man in einer halben Stunde so viel Distanz wie sonst in drei.
Seit Panama mit seinen zahllosen vor Anker liegenden Frachtern hinter dem Horizont verschwunden ist, haben wir kein einziges Schiff mehr zu Gesicht bekommen. Hin und wieder hat das AIS, das Automatische Identifikationssystem für Schiffe, uns informiert, dass eins nicht weit ist, aber „nicht weit“ ist auf dem riesigen Ozean natürlich relativ, und ein zehn Meilen entferntes Schiff ist nicht einmal mit dem Fernglas zu erkennen.
Umso mehr erschrecke ich, als ich an unserem zehnten Tag auf See, am 28.2.2023 um 16:30 etwa hundert Seemeilen südlich von Galapagos plötzlich eine etwas seltsam anmutende Gruppe von Booten auf uns zukommen sehe. Ich ziehe das Fernglas zu Rate und erkenne ein Fischerboot von etwa fünfundzwanzig Metern Länge, das sieben kleinere Boote hinter sich herzieht, die alle gut fünf Meter lang sein dürften und mit kräftigen Außenbordmotoren ausgestattet sind. Soweit ist das erstmal nur ein komischer Schleppverband, aber was mich beunruhigt ist die Tatsache, dass er exakt auf das Schwimmdings zusteuert. Zwar habe ich noch nie etwas von Piraten vor Galapagos gehört, aber opportunistische Fischer gibt es immer wieder, die als kleine Nebeneinkunft die Tatsache ausnutzen, dass man sich hier draußen weit entfernt vom langen Arm des Gesetzes befindet.
Ich eile unter Deck, um das Funkgerät für einen digitalen Notruf vorzubereiten, programmiere als Art des Notfalls Piraterie ein. Ich weiß nicht, ob sich außer dem Kahn, der mich belästigt, überhaupt eine Funkstelle in Reichweite befindet, aber zumindest kann ich ihm auf diese Weise mitteilen, dass ich ihn als aggressiv einstufe und Maßnahmen ergreife. Immerhin kann der Kapitän nicht wissen, ob ich bewaffnet bin oder nicht. Ich zeige Katie, wie sie den Notrufknopf auf mein Kommando drücken soll, dann renne ich wieder an Deck. Das Fischerboot ist inzwischen auf zweihundert Meter an uns rangekommen und nähert sich weiter. Ich erkenne eine ecuadorianische Flagge und den Namen: Manta. An Deck stehen Männer, die winken, aber das kann natürlich ein Trick sein, um uns in Sicherheit zu wiegen, denn nach wie vor fährt das Boot schnurgerade auf uns zu.
Als die Entfernung weniger als hundert Meter beträgt, trage ich Katie auf, den Notruf zu senden. Auf meinem mobilen Gerät im Cockpit erkenne ich, dass er rausgeht. Im nächsten Moment dreht das Fischerboot ab. Wahrscheinlich hatte man dort auf naive Cruiser gehofft, die keinen Verdacht schöpfen, bis es zu spät ist.
Kurz darauf ruft uns der Kapitän über Funk mit einem einfach „Hola“ an. Francis übernimmt das Gespräch, weil sein Spanisch um Längen besser ist als meins. Wir erfahren, dass die Fischer vom Festland nach Galapagos gefahren sind und nun hier nachts nach Haien fischen. Francis berichtet von dem Hai, den wir gefangen haben, zudem möchte der Kapitän wissen, wie viele wir sind, wo wir herkommen und wo wir hinfahren. Als das Gespräch beendet ist, atmen wir alle tief durch und ich breche die Sendungswiederholung des Notrufs ab. Nur einfache Fischer, nichts Böses im Sinn. Angesichts der Anspannung und der Erleichterung vergessen wir schnell, wie ungewöhnlich nah uns das Boot gekommen ist und fragen uns nicht einmal, warum man uns erst angefunkt hat, nachdem wir einen Notruf ausgesendet hatten.
Dann hören wir ein weiteres „Hola“ auf Kanal sechzehn. Dieses Mal möchte der Kapitän wissen, ob wir Radar haben, und sofort gehen wir wieder in den Alarmzustand. Meine einzige Erklärung ist, dass man wissen möchte, ob wir eine Möglichkeit haben, Boote nachts zu orten, wenn sie im Dunkeln auf uns zukommen. Ich sage Francis, er soll nachfragen, warum die das wissen wollen. Die Antwort ist wenig zufriedenstellend. Sie hätten ein Signal aufgefasst. Natürlich haben sie das. Kein Cruiser geht ohne Radarreflektor vor die Tür. Wir weichen aus, lassen die Frage unbeantwortet.
Sofort im Anschluss an das Gespräch rufe ich über Satellit Bremen Rescue an. Dort nimmt man den Fall auf und erklärt, ihn an die Bundespolizei weiterzuleiten, wobei ich nicht weiß, wie die mir helfen möchte, ohne auch nur meine Satellitennummer zu kennen. Schwer enttäuscht von der mangelnden Hilfsbereitschaft meiner Landsleute rufe ich noch meinen Freund Peter in New York an, ob er für mich die Nummer der ecuadorianischen Küstenwache rausfinden könne. Er findet nur die der US Coastguard, aber das entpuppt sich als genau die richtige Adresse. Dort nimmt man mich ernst. Bereits fünf Minuten nach dem Gespräch werde ich zurückgerufen, dieses Mal von der Westküstendivision. Man gibt mir eine Nummer, die ich jederzeit anrufen kann und verspricht, die Ecuadorianer zu verständigen. Zudem werde man stündlich anrufen, um zu checken, ob alles in Ordnung ist.
Ich fühle mich ein wenig beruhigt, was aber nicht lange anhält. Wir bereiten uns gerade auf das Abendessen vor, als Katie um halb sieben plötzlich von Deck ruft. Eins der kleineren Boote, das vom Mutterschiff geschleppt worden war, nähert sich mit hoher Geschwindigkeit durch die einsetzende Dämmerung, obwohl das Mutterschiff schon mindestens sechs Meilen entfernt sein muss. Sofort sende ich einen erneuten Notruf aus und rufe die Nummer an, die man mir bei der US Coastguard gegeben hat. Als ich die Situation erkläre, wird meinem Ansprechpartner das Gespräch entzogen. Eine tiefe Männerstimme rät mir mit militärischer Geradlinigkeit im Ton, alles, was ich an Waffen an Bord habe, zur Schau zu stellen. Ich erkläre, außer einer Machete und einer Speerharpune nichts zu haben, und ob es nicht sinnvoller sei, Piraten zu geben, was sie wollen – ob es wirklich zweckmäßig sei, ein Messer zu einem Feuergefecht mitzubringen, wie man das auf Englisch so schön sagt. Der Typ erklärt, das sei meine Entscheidung, ich solle einfach das Richtige tun, um mich und meine Crew zu beschützen. Ich frage, was in seiner Erfahrung das Richtige sei, und er erklärt überaus hilfreich, ich müsse tun, was nötig sei, um mich und meine Crew zu schützen. Ich schätze, er meint den Einsatz von Schusswaffen. Typisch amerikanisch eben. Dann ändert das Boot leicht seinen Kurs und überholt uns. Ich nehme an, dass sie vom Mutterschiff über den erneuten Notruf informiert wurden. Zudem stehe ich demonstrativ mit dem Handy am Ohr an Deck, um ihnen zu zeigen, dass ich noch über andere Kommunikationskanäle verfüge als nur das in seiner Reichweite sehr limitierte UKW-Gerät.
In dem Boot befinden sich zwei Fischer. Sie umkreisen uns ein paar Minuten lang, bevor sie sich daran machen, ihr Netz auszuwerfen. Das Netz hat in regelmäßigen Abständen von vielleicht achtzig Metern Bojen, um es zu markieren und an der Oberfläche zu halten. Auffällig ist, dass sie die erste Boje, also den Anfang des Netzes, etwa hundert Meter vor dem Schwimmdings leicht nach Backbord versetzt zu Wasser lassen, sich dann aber nach Westen bewegen und die zweite Boje an Steuerbord aussetzen. Bis heute kann ich nur eine Erklärung für dieses Verhalten finden: Sie wollen, dass wir uns im Netz verfangen, um einen Vorwand zu haben, uns nahe zu kommen – nahe genug etwa, um eine Waffe zücken zu können oder gleich an Bord zu kommen. Wir wären in dem Fall so mit dem Entheddern beschäftigt, dass wir unter Umständen vergessen würden, Hilfe anzurufen. Der Pazifik ist nachgerade endlos. Dafür, uns das Netz direkt vor den Bug zu legen, lässt sich ansonsten schwer ein Grund finden.
Trotz des Schwimmdings’ großen Tiefgangs gelangen wir, ohne uns zu verfangen, über das Netz. Das Abendessen ist geprägt von Galgenhumor. Die Anspannung braucht ein Ventil, obwohl ich nun davon ausgehe, dass die Fischer ihren letzten Trick ausgespielt haben. Immerhin haben sie nun tatsächlich Netze im Wasser und müssen sich um ihren Hauptberuf kümmern. Ob es sich überhaupt tatsächlich um freiberufliche Piraten handelt oder nicht, werde ich wohl nie erfahren.
Die US Küstenwache ruft stündlich an, um sich nach dem Rechten zu erkundigen und mich über den Stand der Kontaktaufnahme mit den Ecuadorianern zu informieren, deren Marine wohl ein Schiff in etwa 150 Seemeilen Entfernung hat. Um kurz nach neun schließlich meldet sich die ecuadorianische Marine auf exzellentem Englisch bei mir und bietet an, einen Hubschrauber zu schicken. Man werde über Nacht ohnehin Manöver fliegen und könne ohne Probleme auch meinen Sektor abdecken. Die Tatsache, wie ernst die Ecuadorianer die Sache nehmen, zeigt mir, dass Piraterie in diesen Gewässern nicht völlig fremd sein kann, doch ich lehne dankend ab. Die Bedrohung durch die inzwischen ihrem Hauptberuf nachgehenden mutmaßlichen freelance Piraten schätze ich nunmehr als eher gering ein, und allein das Wissen, dass Hilfe 150 Meilen durch die Luft – und nicht auf dem Wasser – entfernt bereitsteht, beruhigt mich enorm. Wir verdoppeln die Wachen für die Nacht, was sich als nicht mehr notwendige Sicherheitsmaßnahme herausstellt. Am nächsten Tag haben wir alle eine Menge Schlaf nachzuholen.
Piraten oder nicht: Dass sie mir lange nach der ersten Annäherung mit dem Mutterschiff noch einmal aus über sechs Meilen Entfernung mit einem Schnellboot hinterherkommen, ist definitiv mehr als verdächtig.
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