Angst im Paradies ist ein Wechselbad der Gefühle.
Wir sind in der malerischen Lesalav Bay im Norden der Insel Guau in Vanuatu. Umgeben von Korallenriffen und türkisem Wasser, ankern wir vor einem kleinen aus Bambushütten bestehenden Dorf. Man begrüßt uns mit der gleichen Freundlichkeit, die ich inzwischen in Melanesien gewohnt bin, schenkt uns Früchte und zeigt uns die Umgebung. Das Leben ist schön.
Es ist Samstag, als ich zum ersten Mal sehe, dass sich östlich der Salomonen in wenigen Tagen ein potenziell fieses Tiefdruckgebiet bilden wird. Mein Plan ist, von hier aus nach Sola auf der Insel Vanua Lava zu fahren, von wo aus ich ausklarieren und Kurs auf die Louisiaden nehmen kann. Gerade vor drei Tagen erst habe ich ein neues Crewmitglied, Natália, an Bord begrüßt und unsere erste kleinere Überfahrt von Luganville nach Guau haben wir gut überstanden.
In Lesalav Bay treffen wir auch meinen Kumpel Del auf seinem Katamaran Dignity, mit dem ich seit Panama zumeist Seite an Seite gesegelt bin, und seine beiden neuen Crewmitglieder Jack und Hunter. Die Mädchen des Dorfs geben uns eine Performance traditioneller Water Music, etwas, wovon ich zuvor noch nie auch nur gehört hatte. Bei der Wassermusik wird das Meer als Schlaginstrument verwendet, und es imponiert mir, wie viele verschiedene Klangqualitäten die jungen Musikerinnen durch unterschiedliche Manipulation der Wasseroberfläche generieren und in ihre Rhythmen einarbeiten.
Zudem werden wir von den Männern des Dorfs am Sonntagabend zum Kava eingeladen. In Fidschi hatte man mich bereits vor dem Kava in Vanuatu gewarnt, dieser sei enorm stark. Als ich ihn in Port Sandwich das erste Mal probierte, fand ich ihn nur marginal stärker als in Fidschi, doch hier in Lesalav Bay serviert man uns das harte Zeug. Fünf Gläser trinken wir jeweils. Anschließend bin ich froh, das Dinghy überhaupt noch geradeaus steuern zu können. Zurück auf dem Schwimmdings geht Natália erst einmal die Fische füttern und dann gleich zu Bett. Ich sitze noch zwei Stunden im Cockpit, zwinge langsam etwas Abendessen in mich hinein und genieße ansonsten einen komischen, durchaus leicht psychogenen Rausch.
Meinen Plan muss ich ohnehin fürs Erste aufgeben: Das australische Wettermodell ACCESS sagt voraus, dass sich das Tief östlich der Salomonen zu einem Zyklon entwickeln wird, der exakt auf die Louisiaden zusteuert und diese in knapp zehn Tagen treffen wird. Mehrere verschiedene Wettermodelle, die alle über Algorithmen aus den gleichen Daten unterschiedliche Vorhersagen generieren, konkurrieren miteinander. Das europäische Modell ECMWF ist statistisch besehen das Beste, verfügt über das größte Budget und die meiste Rechenpower, und es sieht nicht voraus, dass sich das Tief zu einem ausgewachsenen Wirbelsturm entwickeln wird. Zudem sieht es seine Route viel weiter östlich, so dass ich auf dem Weg zu den Louisiaden längst weit westlich von ihm wäre, wenn es nach Süden zieht. Immerhin bleibt mir noch gut über eine Woche Zeit. Auch das amerikanische Modell GFS sieht das Tief weiter östlich als das australische, allerdings mit stärkeren Winden als das europäische.
Zwei von drei Modellen prognostizieren also eine östliche Route, aber leider ist die Wettervorhersage keine Demokratie. Jedes Modell liegt hin und wieder richtig und jedes liegt hin und wieder falsch. Die einen liegen häufiger richtig als die anderen, aber wenn die anderen, in diesem Falle die Australier, dieses Mal richtig liegen, dann wird ein ausgewachsener Wirbelsturm über die Louisiaden hinwegfegen, so dass ich nicht riskieren kann, loszufahren. Ich muss abwarten, wie die Vorhersagen sich entwickeln. Dass ich dadurch unter Umständen wertvolle Zeit verlieren könnte, ist dummerweise unumgänglich.
Am Tag nach dem Kava-Exzess, am Montag, segeln wir zur Westseite Vanua Lavas in eine Bucht mit dem verheißungsvollen Namen Twin Waterfall Bay. Sie enttäuscht uns nicht. Schon als wir uns ihr nähern, sehen wir von weitem den gewaltigen zweigeteilten Wasserfall, der von einer Klippe unmittelbar in Küstennähe herabstürzt, aber auch der Rest der Bucht ist eine Wucht. Eine grüne Wand aus Vegetation stellt sich steil vor uns auf, nach Norden sehen wir Höhlen im Fels, im Westen springen Delfine aus dem Wasser.
Handyempfang sucht man hier zwar vergebens, aber glücklicherweise hat Del seit ein paar Monaten StarLink an Bord, führt sein Highspeed-Internet also stets mit sich. Leider sind die neuesten Vorhersagen nicht ganz so berauschend wie der Kava. Inzwischen sieht das amerikanische Modell ebenfalls Windgeschwindigkeiten von Zyklonstärke, und auch die Europäer haben ihre Vorhersage der Windstärke nach oben korrigiert. Die Australier verlegen die Route des Tiefs weiter nach Osten, sehen aber nach wie vor Zyklonstärke. Inzwischen sieht es so aus, als seien die Louisiaden sicher, was man über Vanuatu und speziell Vanua Lava leider nicht mehr sagen kann.
Der Dienstag bringt strahlenden Sonnenschein und etwas Entspannung. Wir tauschen mit den Einheimischen, die in ihren Einbaumkanus mit Ausleger angepaddelt kommen. Geld spielt hier keine Rolle, denn Möglichkeiten, es auszugeben, sind weit entfernt. Wir geben ihnen Kleidungsstücke, Spielkarten, Schulhefte und Stifte, Reis und Zucker und erhalten dafür Früchte und Gemüse. Der Wasserfall hält alles, was er verspricht, und Carolyn, die ursprünglich aus der Hauptstadt Port Vila kommt, aber hierher geheiratet hat, zeigt uns ihr wunderschönes Dorf. Auch die neuesten Vorhersagen sind etwas verheißungsvoller, sehen dergestalt aus, dass zwar mit starken Winden, vielleicht sogar Sturmböen zu rechnen sei, die aber aus dem Osten kämen und vor denen wir hier an der Westküste gut geschützt lägen. Wir genießen Sundowner an Bord der Dignity und spielen Domino. Es scheint, als sei alle Sorge umsonst gewesen.
Das ändert sich mit der Vorhersage am Mittwochmorgen. Alle Modelle sagen nun Zyklonstärke voraus und einige sehen das Auge des Wirbelsturms direkt über Vanua Lava hinwegziehen, so dass wir Orkanböen aus mindestens drei verschiedenen Himmelsrichtungen bekommen würden, was bedeutet, dass wir uns nirgendwo verstecken können. Zudem hat die Insel praktisch keine wirklich geschützten Buchten, so dass, wenn der Wind vom Meer kommt, mit ziemlich hohen und steilen Wellen am Ankerplatz zu rechnen ist. Diese dynamischen Lasten können auch bei langer Kette dazu führen, dass der Anker aus dem Grund gerissen wird. Ich würde meinen zweiten Anker und weitere dreißig Meter Kette an den ersten binden, aber ob das reicht, steht in den Sternen.
Natália informiert mich, dass sie bei der nächsten Gelegenheit von Bord gehen wird. Natürlich. Sie hat Angst vor dem Sturm, und weil es mir genauso geht, vermittele ich wahrscheinlich wenig Beruhigung. Ich verbringe den Tag in einem gewissen Alarmzustand und verzichte auf einen Sundowner, was sich später am Abend als nachgerade prophetische Maßnahme erweist. Nach der neuesten Vorhersage sagt das europäische, also das laut Statistik zuverlässigste Modell, einen Zyklon der Kategorie 3 voraus, der in fünf Tagen direkt über Vanua Lava hinwegziehen wird. Je näher das Ereignis rückt, desto verlässlicher werden die Vorhersagen, und die Modelle unterscheiden sich nur noch marginal.
Del beschließt, um 3:00 Uhr morgens Anker zu lichten und in Richtung Sola auf der anderen Seite der Insel aufzubrechen, wo es eine Zollstation gibt, wo er also ausklarieren kann, und dann sofort in Richtung Salomonen abzuhauen. Die Vorhersage suggeriert, dass das machbar sein müsste, aber ich entscheide mich, nicht bis 3:00 Uhr zu warten, sondern sofort Anker zu holen und Kurs auf die Hauptstadt Port Vila zu nehmen. Zwar ist Port Vila mit 40.000 Einwohnern nicht besonders groß, aber es gibt recht sichere Ankerbojen und auch eine Marina. Im schlimmsten Fall könnte ich an Land gehen, um zumindest mein eigenes Leben zu retten, und das Schwimmdings seinem Schicksal überlassen – eine Option, die ich auf dem offenen Ozean nicht habe. Wenn der Zyklon seine Richtung ändert und auf die Salomonen zuhält, könnte er mich ungeschützt treffen, und auf offener See mit einem Boot von Größe und Bauweise des Schwimmdings in einen Zyklon zu geraten, käme einem Todesurteil gleich. Natürlich würde ich das Boot nicht sofort aufgeben, sondern alles versuchen, aber für Windgeschwindigkeiten von 100 Knoten ist es einfach nicht gebaut.
Weil Natália einen Flug von Sola aus gebucht hat, setze ich sie auf der Dignity ab und ziehe dann alleine den Anker hoch. Um 22:00 Uhr am Mittwochabend befinde ich mich in Fahrt. Als ich das südwestliche Kap Vanua Lavas passiere, lade ich über mein langsames Satellitenmodem noch einmal Wetterdaten herunter und beschließe dann, den Salomonen-Plan doch noch nicht gänzlich aufzugeben. Ich ändere den Kurs und kreuze in Richtung Sola, um dort mit Handyempfang noch ein letztes Mal exaktere Wetterdaten herunterzuladen. Wenn ich nach Port Vila will, habe ich noch Zeit. Selbst hier in Vanua Lava soll der Sturm erst am Montagabend ankommen – in Port Vila nochmal zwei Tage später. Wenn ich jetzt sofort nach Port Vila fahre, beraube ich mich einer möglicherweise validen Option.
Und tatsächlich zeigen die neuen Vorhersagen am Morgen eine noch östlichere Route des Zyklons. Die Salomonen liegen im Westen. Ich würde also vor ihm wegfahren, und entscheide mich dafür. Meine größte Sorge rührt daher, dass ein Bekannter von mir nur eine gute Woche zuvor die gleiche Route gesegelt ist und von ständigen starken Gegenströmungen von bis zu zwei Knoten sprach. Meine Maschine ist nicht besonders stark und der Turbolader nähert sich seinem Ende. Ich kann sie deshalb nur sehr niedrigtourig fahren, und Wind ist erstmal kaum vorhergesagt. Dementsprechend habe ich keine Minute zu verschenken. Sobald der Anker in Sola fest ist, lasse ich das Dinghy ins Wasser und fahre an Land. Den Zollbeamten treffe ich auf seinem Weg zur Arbeit. Während er mein Anliegen bearbeitet, versuche ich noch ein wenig Proviant zu erstehen, aber außer ein paar Paprikaschoten und Zwiebeln ist wenig zu finden. Eier hätte ich gerne, aber die sind in keinem der winzigen kioskartigen Läden zu finden. So habe ich am Ende noch 3.000 Vatu, etwa 25 Euro, übrig, mit denen ich nichts mehr anfangen kann. Ich gebe sie den Männern, die mir geholfen haben, das Dinghy auf den Strand zu ziehen. Solange ich von dem Sturm wegkomme, ist alles andere unwichtig.
Der folgende Stimmungsumschwung ist fast schon lustig. Mit dem ominösen Gefühl, ins Ungewisse zu segeln, verlasse ich die Bucht von Sola. Doch dann finde ich schnell eine leichte Brise und setze die Segel. Es ist nicht viel, aber weil die Gegenströmung, von der mein Bekannter gesprochen hatte, ausbleibt, reicht es, um mich mit Maschinenunterstützung auf die nötige Geschwindigkeit zu bringen. 5 Knoten sind das von mir berechnete Minimum, aber selbst bei motorschonender Drehzahl komme ich schnell auf 5,5 oder sogar 5,8. Die Maschine läuft rund und ich komme gut voran. Neuere Wetterdaten bestätigen den östlichen Kurs des Zyklons.
Ich werde es schaffen. Optimismus verdrängt die Angst und Fatalismus schlägt in Euphorie um. Normalerweise beginnt die Zyklonsaison im November, doch der Klimawandel hat den Anfang vorverlegt. Ich habe noch etwa 1.500 Seemeilen (2.780 km) vor mir, bis ich aus der Zyklonzone heraus bin, aber diesem einen bin ich schon mal von der Schippe gesprungen. Alkohol ist bei mir auf See verboten, aber auch ohne tanze ich auf dem Deck.
Selbst diese Vorhersage ist noch viel zu konservativ. Am Ende fegt Lola mit bis zu 165 Knoten, also etwa 305 Stundenkilometern über Vanua Lava hinweg.
In Lesalav Bay tanzt ein Junge den Kastom Dance für uns.
Leider kriegt das billo Mikrofon meines Handys die Klangnuancen nicht so gut hin, aber ich hoffe, es reicht, um euch einen Eindruck zu verschaffen. Hat von euch schon mal einer von Water Music gehört? Faszinierende Sache, das.
Twin Waterfalls Bay ist eine der schönsten Buchten, in denen das Schwimmdings je geankert hat. Vor uns erhebt sich eine grüne Wand aus Dschungel, hinter uns spielen Delfine.
Die Twin Waterfalls. Schon beeindruckend, was da so an Wasser runterkommt. Noch bin ich nicht eingetaucht.
Die Kinder des Dorfs freuen sich sichtlich, uns zu sehen. Für die Menschen hier ist dieser kulturelle Austausch so selten wie für uns.
Hier bauen die Dorfbewohner eine neue Kirche. Die verrostete alte Gasflasche vor dem Eingang soll einmal die Glocke werden.
Der Wasserfall von oben. Auch aus dieser Perspektive beeindruckend.
Viele Dorfbewohner kommen in ihren handgehauenen Einbaumkanus angepaddelt, um mit uns zu tauschen.
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