30.06.2024: Plastikmüll in Indonesien: We’re fucked

Hier ein paar Gedanken zum Plastikmüll in Indonesien. Es war nicht schön. Ich konnte das Land kaum genießen, und von früheren Reisen weiß ich, dass es in anderen Ländern Südostasiens oder auch Lateinamerikas nicht besser aussieht. Das Navigieren in Indonesien war bei Tag schon stressig für einen Einhand-Segler. Bei Nacht aber unterschied es sich nur marginal von russischem Roulette. Jederzeit konnte man mit einem an der Oberfläche treibenden Kühlschrank und dergleichen kollidieren, bei Maschinenfahrt wickelten sich ständig alte Netze, Leinen oder Plastiktüten um den Propeller, und allenthalben trieben unbeleuchtete Fischerei-Plattformen, sogenannte FADs oder Fish Aggregating Devices, die entweder noch verankert waren oder sich losgerissen hatten und hunderte von Metern an dickem Plastikseil hinter sich herzogen. Ich sprach mit vielen anderen Seglern, die nachts einfach keine oder nur langsame Fahrt machten, um im Falle einer Kollision den Schaden zu minimieren. In diesem Fall war Crew kaum hilfreich, denn selbst wenn jemand mit potentem Spotlight vorne am Bug stand, war nicht garantiert, dass Müll in der schwarzen See rechtzeitig erkannt wurde. Ich selbst verlegte mich auf das Prinzip Hoffnung. Da die Winde ohnehin um diese Jahreszeit nicht günstig standen, sah ich es nicht ein, eine nachts aufkommende Brise ungenutzt zu lassen. Ich hatte Glück.

 

Leider keine Seltenheit: So sah es um das Schwimmdings herum mit verstörender Regelmäßigkeit aus. Häufig konnte ich den Außenborder gar nicht verwenden oder musste ihn anhalten, um Plastik zu entfernen, das sich um den Propeller gewickelt hatte.

Die omnipräsenten Mengen an Plastikmüll waren ausreichend, um meinem gesamten Aufenthalt in Indonesien einen faden Beigeschmack zu verleihen. An Land wurde Müll allenthalben einfach am Straßenrand entsorgt. Bei Starkregen schwemmte dieser dann in die Buchten und verseuchte sie zu einem Grad, dass man teilweise kaum noch Wasser sehen konnte. Selbst im Komodo-Nationalpark, berühmt für seine endemischen Riesenechsen, waren auch entlegenste Strände von angeschwemmtem Abfall überzogen. Jedes Jahr gelangen etwa 14 Millionen Tonnen Plastikmüll in die Weltmeere. Durch Strömungen sammelt sich dieser in sogenannten Garbage Patches, von denen der größte fünfmal so groß ist wie die Landfläche Deutschlands. In diesen Patches ist das Plastik so dicht gedrängt, dass kaum Licht hindurchgelangt, das Phytoplankton aber zur Photosynthese und also zum Binden von CO2 benötigt. Siebzig Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen wird von aquatischen Organismen produziert. Nicht der Amazonas Regenwald ist die grüne Lunge unseres Planeten, sondern unsere Meere sind es. Wenn die Ozeane kippen, werden wir kaum eine Überlebenschance haben. Da macht es einen schon wütend, wenn man sieht, mit welcher Gleichgültigkeit in Ländern wie Indonesien Müll dem Straßenrand überlassen wird, von wo aus er vom Regen in die Flüsse und von den Flüssen ins Meer gespült wird.

 

Aber sind die Leute in diesen Ländern tatsächlich so verantwortungslos? Ist ihnen das Schicksal unseres Planeten wirklich völlig egal? Oder sollten wir vielleicht einfach mal den Finger, mit dem wir auf die Schuldigen deuten, um hundertachtzig Grad drehen?

 

Länder wie Indonesien sind nicht ohne Grund unterentwickelt. Sie sind es, weil wir dafür sorgen, und mit „wir“ meine ich in diesem Fall den globalen Norden als Ganzes. Wir haben die Welt in Kolonien unterworfen, die Menschen versklavt, ihre Bodenschätze ebenso wie ihre kulturellen geraubt. Irgendwann kam jemand auf die Idee, dass Ausbeutung billiger möglich sein muss. Irgendein wahrscheinlich von uns als Held verehrter, menschenverachtender, psychopathischer Misanthrop wie Winston Churchill oder seinesgleichen erkannte, dass man keine teuer zu unterhaltenden Armeen braucht, um Völker zu unterdrücken, dass dazu wirtschaftliche Abhängigkeit ausreicht. Und so gaben die großen Colonialistas den unterworfenen Nationen ihre politische Unabhängigkeit zurück, nur um sie durch wirtschaftliche Unterdrückung noch effizienter ausbeuten und die Menschen in die Art moderne Sklaverei treiben zu können, die wir heutzutage allenthalben sehen.

 

Natürlich sollte der Begriff der Sklaverei nicht leichtfertig verwendet werden, und immerhin ist die arme Mehrheit in den Entwicklungsländern frei, verdient dabei aber so wenig, dass es kaum für mehr als drei Mahlzeiten am Tag für die Familie reicht. Der Durchschnittslohn in Indonesien liegt bei weit unter 300 Euro im Monat. Die Menschen tragen keine Fesseln, doch ihre Freiheit ist durch Armut begrenzt. Die Steuererträge der Regierung sind nicht ausreichend, um eine gute Schulbildung für die gesamte Bevölkerung zu garantieren, und Englisch spricht nur, wessen Eltern sich eine teure Privatschule leisten können. Chancen, aus dem Hamsterrad auszubrechen, sind verschwindend gering.

 

Zum Glück aber gibt es Entwicklungshilfe, vermittels derer wir alles tun, um diesen Ländern auf die richtige Bahn zu helfen. Oder? Entwicklungshilfe in der heutigen Zeit ist der größte Betrug der Menschheitsgeschichte, denn natürlich besteht überhaupt gar kein Interesse daran, arme Länder zu entwickeln. Wer würde denn, wenn Gehaltsniveaus sich weltweit anglichen, die günstigen Produkte in die Regale deutscher Geschäfte stellen? Und wer möchte sich schon ein T-Shirt leisten, das in Deutschland hergestellt wurde, wo der Mindeststundenlohn über dem durchschnittlichen Tageslohn der meisten Entwicklungsländer liegt? All die Elektronik, die Haushaltsgeräte, das Spielzeug – wer möchte schon für alles das Doppelte oder Dreifache bezahlen, wenn schon die im Vergleich dazu sehr geringe, immerhin und nachvollziehbar durch eine schwere Pandemie verursachte Inflation viele Menschen zu Wutausbrüchen und in das Reich der Verschwörungstheorien treibt? Viel leichter erscheint es da, die Augen vor der Realität zu verschließen, die armen Länder weiter auszubeuten und sich dann darüber zu beschweren, dass sie mit dem bisschen, was wir ihnen lassen, Plastikentsorgung und Umweltschutz nicht priorisieren. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass sich unsere eigene Müllbilanz nur deshalb so sauber liest, weil wir achtzig Prozent unseres Mülls nach Asien verschiffen, wo uns kaum interessiert, was mit ihm geschieht. Dass wir dabei noch tonnenweise schweres Schiffsdiesel in die Atmosphäre blasen, um uns unseres Mülls zu entledigen, wirkt dagegen fast wie eine Randnotiz.

 

Aber zurück zur Entwicklungshilfe. Entwicklungshilfe beschränkt sich auf nur zwei Aspekte: Erstens auf den Bau von Straßen, See- und Flughäfen, auf Infrastruktur also, die dazu dient, Rohstoffe und Produkte noch leichter aus der betreffenden Region extrahieren zu können, und zweitens auf die Gesundheitsversorgung, um sicherzustellen, dass der Welt in Zukunft weder die Konsumenten noch die billigen Arbeiter ausgehen. NGOs in Entwicklungsländern existieren mit dem einzigen Ziel, sicherzustellen, dass ein möglichst großer Prozentsatz aller geleisteten Entwicklungshilfezahlungen in den globalen Norden zurückfließt – sei es durch direkte Beteiligung an Profiten, wenn es sich etwa um Kraftwerke oder Mienen handelt, die unterstützt werden, oder durch geldwerte Vorteile wie billigere Extraktion von Rohstoffen und Gütern.

 

Aber damit, dass wir von unseren modern versklavten Billiglohn-Arbeitern etwas mehr Verantwortung im Umgang mit der Natur erwarten, endet die böse Doppelmoral noch lange nicht, denn wir sollten nicht vergessen, dass unser eigener Wohlstand nicht allein auf der Ausbeutung ferner Regionen gründet, sondern dass wir auch unsere eigene Umwelt komplett umgestaltet haben. Ganz Nordeuropa und der größte Teil Nordamerikas waren einmal gänzlich von Wald überzogen. Wir holzten diesen ab, um Ackerflächen zu schaffen, die wir bis heute nutzen, um Schiffe zu bauen, mit denen wir den Rest der Welt unterwarfen und um Dampfkessel zu erhitzen, vermittels derer wir die Evolution von Technologie und den mit ihr verbundenen Raubbau an unserem Planeten antrieben. Nun aber wollen wir Ländern wie Brasilien oder Indonesien verbieten, ihren eigenen Wald auf ähnlich gewinnbringende Weise zu nutzen. Natürlich bin ich dagegen, dass tropische Regenwälder abgeholzt werden, aber ich bin auch der Meinung, dass es unsere Verantwortung ist: dass wir anderen nicht verbieten können, was wir selbst so gewinnbringend vollbracht haben. Wir haben die Mittel – zum Teil, weil wir sie aus den Kolonien gestohlen haben –, also sollten wir diese Mittel auch nutzen, um Ländern ihren Wald abzukaufen. Erst dann dürfen wir entscheiden, was mit ihm geschieht.

 

Ein anderer Pfeiler, auf dem unser Wohlstand gründet, ist das grenzenlose, unseren Planeten verachtende Verfeuern fossiler Brennstoffe – eine weitere Praxis, die wir den Entwicklungsländern nun verbieten wollen. Natürlich ist auch das lediglich ein Instrument, um allzu ungezügeltes Wachstum einzudämmen und sicherzustellen, dass die Dritte Welt nie mit uns wird aufschließen können, was bedeutet, dass erneut alleine wir die Verantwortung tragen. Wir hätten die Mittel, erneuerbare Energien auch in Entwicklungsländern zu fördern, doch solange wir daran nicht mitverdienen können, besteht daran kein Interesse.

 

Es ist das gleiche Problem wie bei den Flüchtlingsbewegungen, über die sich mehr und mehr Leute in Europa und den USA beschweren. Niemand verlässt gerne seine Heimat, seine Familie, seine Freunde. Ein jeder fühlt sich am wohlsten in dem kulturellen Umfeld, in dem er aufgewachsen ist. Doch so lange wir in armen Ländern Proxy-Kriege auf dem Rücken der lokalen Bevölkerung austragen, um geopolitische Positionen und die Gewinne der Waffenindustrie zu stärken, so lange wir demokratisch gewählte Staatsoberhäupter korrumpieren, um uns ihrer Unterstützung bei der Ausbeutung ihrer Länder zu erfreuen, so lange wir Armut und die häufig daraus resultierende Bandenkriminalität schaffen, dürfen wir uns nicht darüber beklagen, dass Menschen in der Fremde einer vagen Hoffnung folgend ein besseres, sicheres Dasein suchen. Stimmen gegen die Aufnahme von Flüchtlingen werden lauter und lauter, doch niemand kommt auf die Idee, dass diese Menschen selbst lieber zu Hause wären: Niemand kommt auf die Idee, sie dabei zu unterstützen, in ihren Heimatländern ein sicheres Leben ohne Gewalt und Hunger führen zu können.

 

Die Entwicklungsländer in immer neue Abhängigkeiten und eine Form der modernen Sklaverei zu zwingen ist moralisch mehr als verwerflich. Ihnen dann aber zusätzlich noch Fahrlässigkeit beim Umgang mit unserem Planeten vorzuwerfen, ist nachgerade zynisch. Ich konnte Indonesien nicht genießen, weil es von einer teilweise flächendeckend wirkenden Schicht aus Plastikmüll überzogen ist. Und ich sehe die Schuld dafür bei uns. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Prioritäten in den Griff bekommen. Denn so lange wir mit dem Finger auf andere zeigen, um von unserer eigenen Schuld abzulenken, so lange wir die Augen davor verschließen, dass es unsere eigene Gier, unsere eigene Unfähigkeit, Zugeständnisse zu machen, ist, die den Planeten zerstört, kann man nur sagen: We’re fucked.

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